Ist es nicht erstaunlich, wieviel Aufwand wir Menschen oft treiben, um Erfüllung und Lebensintensität zu erfahren? Wir reisen in ferne Länder, kaufen teure Konsumgüter und besuchen ein Event nach dem nächsten. Doch manchmal entdecken wir in ganz einfachen, schlichten Erfahrungen, wie in der Frische eines Atemzugs oder im Wohlgefühl, das entsteht, wenn wir unseren Körper bewohnen, eine Intensität und eine Erfüllung, die uns tief beglücken.
Diese intensiven Gegenwartserfahrungen sind potentiell immer abrufbar. Schließlich atmen, spüren und hören wir immer. Unsere Sinneswahrnehmungen sind im Wachbewusstsein stets aktiv. Aber nur wenn wir aus dem Denken aussteigen und wenn sich unsere Wahrnehmung mit großer Bewusstheit anreichert, verdichtet sich das Erleben und wir spüren einfache Sinneswahrnehmungen in ihrer ganzen Intensität. Erst dann sind sie erfüllend.
„Das Leben kann man nicht verlängern, aber wir können es verdichten“ Roger Willemsen
In Kontakt sein und sich berühren lassen
Wir sind über unsere Sinne in jedem Augenblick unseres Lebens mit irgendeinem inneren oder äußerem Objekt in Kontakt. Das können wir gar nicht verhindern. Aber erst, wenn wir uns von diesen Objekten berühren lassen, erscheinen uns die Dinge plötzlich wie verwandelt und offenbaren sich erfüllend und neu.
Es gibt also einen Unterschied, ob wir mit etwas wahrnehmend in Kontakt sind, oder ob wir uns davon berühren lassen. Wir können zum Beispiel einen Sonnenaufgang sehen und wir können uns davon berühren lassen. Wir können unseren Nachbarn begrüßen und ihn mit großer Selbstverständlichkeit behandeln, und wir können uns von seiner Existenz anrühren lassen. Erst dann spüren wir die Kostbarkeit dieses Menschen.
Dieses Phänomen kennen wir aus allen Wahrnehmungen. Das Wahrnehmungsobjekt kann für uns selbstverständlich sein, dann bleibt das Erleben flach. Ein unsichtbarer Schleier der Gewohnheit scheint über allem zu liegen, der uns die Dinge zwar oberflächlich wahrnehmen, aber nicht spüren lässt. Wie wenn wir unter einer Glasglocke sitzen gibt es ein subtiles Gefühl von Trennung.
Wir können uns jedoch auch bewusstmachen, wie kostbar, wie unverfügbar und zugleich wie zerbrechlich ein Mensch, ein Tier oder eine Situation ist. Erst dann dringt die Wahrnehmung zu uns durch und ergreift uns. Erst dann offenbart sich uns das Wahrgenommene wirklich.
Ist es wirklich selbstverständlich, dass du gerade atmest und dein Herz schlägt? Ist es selbstverständlich, dass du Freunde und Nachbarn und vielleicht Familie hast? Ist irgendetwas von dem, das du in deinem Leben liebst, selbstverständlich? Wie ändert sich doch das Empfinden und wie schauen wir anders auf die Dinge, wenn nichts selbstverständlich ist?
Der Schleier der Funktionalität
Es gibt jedoch noch einen zweiten Mechanismus in unserem Geist, der über unsere Wahrnehmungen einen Schleier ziehen lässt: die Funktionalität.
Im Alltagsmodus werden alle Wahrnehmungen einem Zweck untergeordnet. Wir trinken, um den Durst zu löschen, sehen unsere Umgebung, um uns zu orientieren, schütteln Hände, um zu begrüßen,… Immer gibt es da einen Zweck, dem die Wahrnehmungen unterstellt werden. Alles wird hier Mittel zum Zweck und dadurch in unsere Welt eingebaut.
Wieviel schmecken wir von einem Getränk, wenn wir nur daran denken, unseren Durst zu löschen? Wieviel sehen wir von der Umgebung, wenn wir uns nur funktional orientieren wollen? Und wieviel spüren wir von der anderen Hand, die wir schütteln, wenn der Kontakt nur einer höflichen Geste dient?
Doch kaum treten wir aus dem Modus der Funktionalität heraus, schon werden wir empfangender und sensitiver. Und wenn wir jetzt in Muße und Offenheit auf die Dinge schauen, ohne Absicht und ohne Zweck, und ohne sie in unsere Welt einzubauen, sehen wir plötzlich in ihnen das Mysterium des Lebens. Dag Hammarskjöld beschreibt das so:
Einfachheit heißt, die Wirklichkeit nicht in Beziehung auf uns zu erleben, sondern in ihrer heiligen Unabhängigkeit.
Das Mysterium des Lebens
In jedem einzelnen noch so unscheinbaren Phänomen kann sich das Wunder des Lebens offenbaren. Wir müssen allerdings dazu die Brille unserer Funktionalität absetzen und die Dinge in ihrer heiligen Unabhängigkeit betrachten. Wir dürfen sie nicht in unsere Welt einbauen und sie nicht für unsere Absichten missbrauchen.
Dann erkennen wir, dass der Atem nicht (nur) dazu da ist, um uns am Leben zu erhalten. Er ist ein Mysterium, ein Wunder, eine eigene Welt. Es atmet in uns – wie wundersam!
Unsere Hände sind nicht (nur) dazu geschaffen, um Werkzeuge zu sein, sondern wenn wir sie zweckfrei und mit neuen, staunenden Augen betrachten, sehen wir das Unbegreifliche darin. Wissen wir überhaupt, was Hände sind?
Ein Mensch, unser/e Partner/in, unsere Kinder, unsere Freunde, sind nicht dazu da, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Wenn wir sie in ihrer heiligen Unabhängigkeit erkennen, dann sehen wir sofort: Sie sind einzigartig und kostbar! Schaut euch doch in eurem Leben um: Seht ihr irgendeinen Menschen, der nicht ein einzigartiger Ausdruck der Schöpfung ist?
Auch die Natur ist nicht dazu da, um uns zu dienen. Es gibt keine Nutzpflanzen und kein Unkraut. Ein Insekt ist nicht weniger Wert wie ein Haustier oder eine Kuh. Alles, was existiert, ist Existenz, ist Mysterium, ist Offenbarung, ist unermesslich, ist kostbar.
Im Zentrum unseres Wesens ruhend begegnen wir einer Welt, in der alles auf gleiche Art in sich ruht. Dadurch wird der Baum zu einem Mysterium, die Wolke zu einer Offenbarung und der Mensch zu einem Kosmos, dessen Reichtum wir nur in Bruchteilen erfassen. Für den Einfachen ist das Leben einfach, aber es öffnet ein Buch, in welchem wir nie über die ersten Buchstaben hinauskommen. Dag Hammerskjöld
Diese Einfachheit, in der sich das Mysterium des Lebens offenbart, liegt in jedem gegenwärtigen Moment verborgen. Wir können es in allen Dingen, auch in den ganz schlichten Momenten unseres Lebens berühren, indem wir die Dinge in ihrer heiligen Unabhängigkeit betrachten. Wir lassen uns hier im wahrsten Sinne des Wortes berühren und staunen. Ehrfürchtiges Staunen ist wahrscheinlich die einzige Haltung, die dem Wunder des Lebens in allem Gegenwärtigen gerecht wird.
Richard Stiegler
www.seeleundsein.com