Der Lockdown ist in Deutschland zurückgekehrt und wie bei vielen anderen Menschen hat er auch massive Auswirkungen auf mein Leben. So müssen im November alle Kurse ausfallen und wie es im Dezember diesbezüglich weitergeht, ist höchst ungewiss. Doch damit nicht genug: Derzeit muss man davon ausgehen, dass uns die Corona-Pandemie im ganzen nächsten Jahr weiter in Atem halten wird und uns nochmal ein Ausnahmejahr bevorsteht.
Wie in jeder persönlichen oder kollektiven Krise werden wir aus dem Schlaf der Selbstverständlichkeiten gerissen und mit der fundamentalen Unsicherheit des Lebens konfrontiert. Wo zuvor alles einigermaßen sicher und planbar erschien, spüren wir jetzt, wie nichts selbstverständlich ist und unsere Lebenspläne Schall und Rauch sind. Spätestens hier wird uns vielleicht bewusst, dass ein spiritueller Weg keine Luxusbeschäftigung ist, sondern eine existentielle Notwendigkeit. Wenn alles, was uns als Mensch ausmacht und was uns Halt und Sicherheit gibt, bedroht ist und uns jederzeit entzogen werden kann (und immer wieder entzogen wird), dann sind wir dazu aufgerufen, auf die Unplanbarkeit und Unverfügbarkeit des Lebens eine Antwort zu finden.
Panta rhei – Alles fließt Heraklit
Die spirituelle Grundhaltung der Annahme
Der erste und grundlegendste Schritt, der in allen persönlichen und globalen Krisen von uns gefordert wird, ist, dass wir unsere Vorstellungen und Pläne loslassen, um wieder in Einklang zu kommen mit dem Leben, wie es tatsächlich ist. Anders gesagt: Ob wir wollen oder nicht, wir werden dazu aufgerufen, das Leben, so wie es ist, anzunehmen. Die spirituelle Grundhaltung der bedingungslosen Annahme ist alles andere als bequem oder romantisch. Sie ist zutiefst herausfordernd. In allen Krisen ist sie die entscheidende heilenden Zutat, um diese innerlich bewältigen zu können.
Insofern macht es Sinn, nochmal in Ruhe zu betrachten, was die Grundhaltung der bedingungslosen Annahme meint. Das ist nämlich gar nicht so eindeutig, wie es im ersten Moment scheint. Normalerweise denken wir, dass Annahme ein Beziehungsvorgang ist also, dass wir die Freiheit haben, etwas anzunehmen oder abzulehnen. Oberflächlich betrachtet stimmt das auch. Aber wenn wir tiefer schauen, dann ist Annahme kein Beziehungsvorgang, sondern eine Grundeigenschaft des SEINs. Die Dinge sind angenommen, weil sie sind. Wir sind angenommen, weil wir sind. Alles ist in seiner Existenz angenommen.
„Es ist“ ist daher die grundlegendste Aussage, die wir treffen können. Nicht „es ist gut“ oder „es ist schlecht“, sondern einfach nur: „es ist“. Wir erkennen damit die Existenz der Dinge an und spüren ihr fundamentales Angenommensein.
Im Blick des Betrachters
Dieses Anerkennen der Existenz der Dinge, so wie sie sind, ist grundlegender als alles, was wir sonst über das Leben sagen oder denken können. Alle Meinungen, alle Urteile und Vorlieben drücken nur einen subjektiven, individuellen Blickwinkel aufs Leben aus. Wenn wir etwas „gut“ finden, zeigt dies nur, welche Vorliebe wir haben. Genauso verhält es sich, wenn wir etwas „schlecht“ oder “schwierig“ finden. Und alle Emotionen wie Angst, Frustration, Ärger oder Schmerz ergeben sich aus dem Festhalten an unseren subjektiven Vorlieben und Vorstellungen.
Wirklichkeit ist in sich nicht gut oder schlecht, schön oder hässlich, nicht freud- oder leidvoll, nicht kostbar oder wertlos. All diese Kategorien entstehen erst im Blick des Betrachters, je nachdem welche Perspektive er oder sie einnimmt. Ist uns das normalerweise bewusst?
Wie hässlich du bist, wenn ich dich hasse. Heidebrecht
Ist uns bewusst, dass das, worunter wir leiden, gar nicht der Grund für unser Leiden ist, sondern nur die Folge unserer Ablehnung? Meistens machen wir die Umstände für unser Leiden verantwortlich, die Coronakrise oder die Hygienemaßnahme der Regierung oder die Ausgangsbeschränkung oder … Doch wenn wir tiefer schauen, werden wir entdecken, dass die Ursache des Leidens in uns liegt, in unserem Festhalten an Vorstellungen, wie das Leben zu sein hat, und an unserer Ablehnung dessen, was ist.
Die gute Botschaft
Wenn die Ursache für unser Leiden aber nicht in den Umständen liegt, sondern in uns, dann können wir uns auch aus dem Leiden befreien. Wir sind dem Leiden dann nicht ausgeliefert. Ist das nicht eine wirklich gute Botschaft?
Wir können kraft unserer Bewusstheit betrachten, woran wir festhalten, und wir können uns auf eine grundlegende Annahme einstimmen, indem wir systematisch die Existenz der Dinge, so wie sind, anerkennen. Machen wir uns bewusst: Das Erste und Grundlegendste, was wir in jeder persönlichen oder kollektiven Krise „tun“ können, ist, die Existenz der Dinge anzuerkennen: „Ob es uns gefällt oder nicht, es ist.“
Anerkennen, was ist, ist ein natürlicher und einfacher Vorgang, wenn auch keineswegs selbstverständlich für uns. Unser Ego ist ständig dabei, Dinge zu wollen oder abzulehnen, zu lieben oder zu hassen, den Dingen Wert zuzuschreiben oder abzusprechen. Und genauso gehen wir auch mit uns selbst um. Alles, was in uns auftaucht und was uns ausmacht, wird sofort aussortiert, für gut oder schlecht empfunden, hervorgehoben und ausgedrückt oder bekämpft und versteckt.
Dabei wird dieser unablässige Vorgang des Aussortierens für uns zu einem Dschungel aus Meinungen und Vorlieben, in dem wir uns verstricken und verlieren. Am Ende glauben wir subjektiven Meinungen mehr als der Existenz des Lebens und kommen zu der Ansicht, dass die Schöpfung unvollkommen ist. Und auch uns selbst betrachten wir so: fehlerhaft und damit nicht in Ordnung.
Annehmen als Alltagspraxis
Das Gefühl, dass die Existenz und auch wir selbst fehlerhaft, also nicht in Ordnung, sind, ist ein zentrales Urgefühl des Egos. Es ist der Ausdruck dafür, dass wir den Zugang zu der schlichten Tatsache der Existenz und damit dem Angenommensein aller Dinge verloren haben. Um aus dieser Verblendung auszusteigen und das grundsätzliche In-Ordnung-Sein aller Dinge wieder spüren zu können, gibt es einen einfachen, aber wirkungsvollen Schlüssel: anerkennen, was ist.
„Anerkennen, was ist“, ist eine Praxis, sogar eine sehr alltagstaugliche. Es ist ein stetiges Sich-Erinnern und Sich-Einstimmen auf das Angenommensein und damit das In-Ordnung-Sein aller Dinge. Das können wir nicht nur auf dem Meditationskissen üben, sondern in jeder Lebenslage. In jedem Augenblick können wir uns darauf besinnen und uns vor jeder Handlung bewusst machen, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Das bedeutet nicht, dass wir dann nicht mehr handeln oder uns auf das, was ist, beziehen, aber es bedeutet, dass wir, bevor wir handeln, das Leben in seiner Existenz anerkennen.
Das macht einen riesigen Unterschied. Denn wie handeln wir, wenn wir im Clinch mit den Umständen sind, und wie, wenn wir sie anerkennen? Im einen Fall leiden wir unter den Dingen und wenn wir daraus unbewusst handeln, ist auch unsere Handlung nicht selten leidbringend für andere. Im anderen Fall, wenn wir die Existenz der Dinge, so wie sie sind, anerkennen, handeln wir im Einklang mit dem Leben, so wie es ist, und unser Handeln unterstützt damit nicht nur den eigenen inneren Frieden, sondern auch den Frieden in der Welt.
Eine Übung, um sich auf die Haltung der Annahme einzustimmen
- Geh alleine kontemplativ spazieren, schau dabei auf Dinge, die dir spontan gefallen und genauso auf Dinge, die dir nicht gefallen. Betrachte alles in Ruhe und sage innerlich zu allem, was geschieht oder dir begegnet: „Es ist.“
- Nimm dabei auch alles wahr, was innerlich dabei auftaucht: Gefühle, Urteile, Gedanken, … Lass alles zu und sage auch hier: „Es ist“.
Ich wünsche allen Leser/innen, dass sie diese besondere Zeit gesund und unbeschadet überstehen, und auch, dass sie sich mit einer tieferen Annahme verbinden können!
Richard Stiegler
www.seeleundsein.com