Das Jahr 2020 neigt sich dem Ende zu. Für mich, wie für viele andere Menschen, war es ein herausforderndes Jahr. Wer hätte im Januar gedacht, dass durch die Corona-Pandemie ein derart massiver kollektiver Einbruch geschehen würde, der so viele gewohnte Vorgänge in Frage stellt und so massiv auf unser aller Leben einwirkt?
Ein Leben mit Ungewissheiten
Auch an den Angeboten der Schule SEELEundSEIN ging diese Zeit nicht spurlos vorüber: Fünf Monate lang durften keine Kurse und Ausbildungen stattfinden. Und auch in den Monaten zwischen den beiden Lockdowns, von Juni bis Oktober, mussten bei allen Kursen strenge Hygienemaßnahmen eingehalten werden. Das hat mir (sowie allen anderen Kursleiter*innen) und den Seminarhäusern viel abverlangt - finanziell, aber vor allen Dingen auch organisatorisch. Kein Kurs konnte wie ursprünglich geplant stattfinden. Kaum hatte man sich auf ein Szenario eingestellt, war es schon wieder anders und es musste alles wieder umgestellt werden. Plötzlich lösten sich verlässliche Strukturen auf und es war nichts mehr planbar. So lief zum Beispiel mein Engagement für das Klima buchstäblich ins Leere. Kein einziger Klimaworkshop konnte dieses Jahr stattfinden.
Nun scheint die Situation 2021 nicht besser zu werden. Aus heutiger Perspektive ist vollkommen unklar, wie lange die Seminarhäuser im Winter geschlossen bleiben müssen und welche Bedingungen danach für Kurse herrschen werden. Wann wird eine dritte Welle kommen? Wird die Impfung die erhoffte Wirkung zeigen und eine Entspannung bringen? Werden Regeln wie Abstandspflicht und Masken über lange Zeit bestehen bleiben? Wie wird der nächste Winter?
Einen herzlichen Dank
In all diesen Ungewissheiten hat sich jedoch eines nicht verändert: Das Interesse an den Kursen und Ausbildungen von SEELEundSEIN ist ungebrochen. Für diese Treue möchte ich mich herzlich bei allen Teilnehmer*innen bedanken! Ich bin mir sehr bewusst, dass dies nicht selbstverständlich ist. Auch danke ich allen Menschen, die dieses Jahr Kurse bei mir besucht haben (oder es wollten), dass sie bereit waren, sich auf die Unsicherheit und die Hygienemaßnahmen einzulassen. Ich weiß, wie ungewohnt und herausfordernd das für viele Teilnehmer*innen war und weiterhin sein dürfte.
Es zeigt mir jedoch auch, wie wichtig den Menschen ein innerer Weg ist, in denen ihre Nöte Platz haben und das gesunde Potential ihrer Seele unterstützt wird. Wie heilsam ist es doch, immer wieder eine wahrhaftige und lebendige Nähe zu anderen Menschen und die Verbundenheit in der Gemeinschaft der Gruppe erfahren zu können? Und wie essentiell sind diese Erfahrungen für unser Seelenheil?
Vielleicht sind diese Kurse auf eine Weise durchaus systemrelevant. Natürlich nicht in wirtschaftlicher Hinsicht, aber durchaus auf einer seelischen und zwischenmenschlichen Ebene, die für eine funktionierende Demokratie genauso relevant ist, wie der Erhalt von Arbeitsplätzen. Denn was geschieht, wenn die innere Unzufriedenheit in einer Gesellschaft wächst? Wieviel Frustration, Wut und Spaltungstendenzen infiltrieren dann das Zusammenleben der Menschen, als ob sich ganz allmählich ein unsichtbares Gift ausbreitet, welches die Gesellschaft schleichend zersetzt?
Was Sinn stiftet
Brauchen wir nicht gerade jetzt in dieser Zeit, die uns alle auf die eine oder andere Weise herausfordert, vor allen Dingen Solidarität, Mitmenschlichkeit, Unterstützungsbereitschaft und Inseln von gesunden Freundschaften und tragenden Gemeinschaften, in denen wir auftanken und immer wieder zu uns finden können? Und brauchen wir nicht dringend alle auch Formen der Praxis und Räume der Einkehr, um immer wieder unsere Mitte zu finden? Räume, in denen unsere Seele gehört wird und einen heilsamen Platz findet, sind weder selbstverständlich, noch ein Luxusgut. Sie sind kostbar und wir sollten sie bewusst pflegen und großzügig verschenken - für unser Seelenheil, aber auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Auf der einen Seite haben wir nämlich das natürliche Bedürfnis nach seelischer Unterstützung, wir können jedoch auch selbst eine Oase der Mitmenschlichkeit und des Friedens für andere sein. Allerdings nur dann, wenn wir nicht in unseren Unzufriedenheiten gefangen sind und daraus agieren, sondern einen Zugang zu der Tiefendimension der Seele bekommen. Denn nur dort, in der Tiefe, entfaltet sich ein Vertrauen, das unbedingt ist, und ein Frieden, den dann in unsere Beziehungen hineinwirken kann.
Nochmal: Wir können für unsere Mitmenschen besonders in der Zeit der persönlichen oder gesellschaftlichen Krise einen Unterschied darstellen. Wir können der Pfeiler sein, der andere stabilisiert. Wir können die Person sein, die zuhört, die mitfühlend ist und anderen wieder Kraft und Zuversicht gibt. Wir können da sein, wenn Unterstützung gesucht wird. Wir können aus dem Herzen leben und „Werkzeuge des Friedens“ sein, wie es der heilige Franziskus formuliert hat. Ist das nicht hoffnungsvoll und sinnstiftend?
Dieses zerbrechliche, unverstellte Menschsein
Das christliche Weihnachtsfest steht vor der Tür. Es wird ein besonderes Weihnachten werden. Vielleicht rückt uns die spirituelle Dimension des Festes durch die gesellschaftliche Krise wieder näher – die Verletzlichkeit und das eigentlich Kostbare des Lebens. Vielleicht kann sich diesmal der Würgegriff des Konsums, der Weihnachten seit langer Zeit fest umklammert hält, wieder lockern.
Denn, was ist Weihnachten? Es ist zuallererst eine Erinnerung an das Wesentliche, das uns in unserer Existenz als Mensch ausmacht. Ein Kind kommt in die Welt, ungeschützt, nackt, mittellos, hilflos und zart. Kein muskelstrotzender Held mit Superkräften ist das Rettende, sondern das Gegenteil: das schlichte Menschsein in all seiner Zerbrechlichkeit. Was ist zerbrechlicher, was ist unverstellter als ein Neugeborenes? Und doch ist die ganze Kraft des Lebens und der Erneuerung darin erhalten.
Ist das nicht wirklich überraschend, dass die Befreiung nicht von einem „Helden“ oder spirituellem Meister ausgeht, sondern von einem neugeborenen Kind, das noch nichts kann, nichts besitzt und kein Würdenträger ist? Doch wo zeigt sich das SEIN unverstellter, als in einem Kind, das noch keine Attribute hat, das eben noch nicht mit Kategorien von Weisheit, Leistung, Schönheit, Erfolg, Besitz, Prestige oder Rollenzuschreibungen beladen ist.
Dieses zerbrechliche, unverstellte Menschsein, das uns in jedem Kind anschaut und uns alle anrührt, lebt in uns - jetzt und in jedem Augenblick unseres Lebens. Diese zarte Kraft, die in ihrer Wirkung doch so machtvoll sein kann und das Potential der Erneuerung und Heilung in sich trägt, ist uns immanent. Wir müssen uns nur darauf besinnen. Jeder Moment einer persönlichen Schwäche ist eine Möglichkeit dazu.
Wo können wir der Kraft und Würde unserer Existenz – unseres bloßen Daseins - näher sein, als in einer Zeit der Krise und des gesellschaftlichen Umbruchs, wo all unsere scheinbaren Sicherheiten und Annehmlichkeiten aufgebrochen werden? Hier sind wir wieder nackt und zerbrechlich und unverstellt wie einst als Neugeborene (oder als Sterbende). Darin liegt die Kraft - eine sich erneuende Kraft -, für eine Welt der Verbundenheit und Liebe, in der nicht der Verstand, der Profit oder das Recht des Stärkeren im Zentrum steht, sondern das Herz.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern und ihren Familien eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit!
Richard Stiegler
www.seeleundsein.com