Ein Paradigmenwechsel
Jahrzehntelang war das Heilungsverständnis der Psychotherapie davon bestimmt, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Zurzeit findet jedoch aufgrund der modernen Gehirnforschung ein grundlegender Wandel in der Psychotherapie statt: die Bedeutung von Ressourcen für die Heilung nimmt zu und die Erkenntnis wächst, dass das Heilungspotential nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart liegt.
Das klassische Verständnis von Heilung in der Tiefenpsychologie
Sigmund Freud entdeckte, dass wir in unserer Kindheit durch die zentralen Beziehungen und Lebensumstände geprägt werden und diese Grunderfahrungen im Unbewussten, also am Grund unserer Seele, lagern. Bei entsprechenden Auslösern können sie jederzeit an die Oberfläche kommen und unser aktuelles Erleben, unsere Wahrnehmungen, Gefühle und auch Handlungen einfärben.
So kann es geschehen, dass wir bei einer aktuellen Frustration mit heftigen, unangemessenen Emotionen reagieren und diese unser Verhalten bestimmen. Zum Beispiel kann ein kleiner Konflikt mit einem Nachbarn ein Gefühl der fundamentalen Bedrohung in uns auslösen und wir wundern uns, warum dieser Konflikt eine so gravierende Wirkung auf unser Erleben hat. Doch es ist nicht der aktuelle Konflikt, der zu diesem Erleben von Bedrohung führt, sondern eine alte Grunderfahrung von Bedrohung aus unserer Kindheit, die hier an die Oberfläche des Bewusstseins gespült wird. Dieser Vorgang ist uns aber in der Regel nicht bewusst, sondern wir denken, dass es der Nachbar ist, der uns so tief bedroht.
Die Erkenntnis der Prägung des Unbewussten durch Kindheitserfahrungen war ein großer Schritt zum Verständnis der Psyche des Menschen und ist bis heute allgemein anerkannt. Aus dieser Erkenntnis entstanden therapeutische Methoden, die versuchten, die meist unbewussten Prägungen und Erfahrungen aus der Kindheit sichtbar werden zu lassen. Zum Teil wollte man dadurch die Person unterstützen, eigene Gefühle, Verhaltens- und Beziehungsmuster in der Tiefe zu verstehen, zum Teil wurde auch versucht, die Grunderfahrungen aus der Kindheit „durchzuarbeiten“, also nochmals erleben zu lassen, um sie dadurch besser integrieren zu können.
Das tiefenpsychologische Verständnis von Heilung hat eine ganze Generation von klassischen und alternativen Therapeuten/innen in ihrer Vorgehensweise bestimmt. Viele humanistische Psychotherapien wurden davon geprägt. Die Arbeit mit dem „inneren Kind“ ist ein typisches Beispiel für eine tiefenpsychologische Sichtweise, die auf eine moderne Art interpretiert wird. Auch hier wird versucht, die Erfahrungen als Kind mithilfe des Konstrukts eines inneren Kindes wieder ins Bewusstsein zu heben, um damit zu arbeiten und sie dadurch besser integrieren zu können.
Die tiefenpsychologische Prägung
Selbstverständlich hat die tiefenpsychologische Sichtweise ihre Berechtigung und zeigt auch immer wieder positive Wirkungen. Allerdings führt diese Sichtweise dazu, dass die Therapie sich meist um das Problematische und das Vergangene im Leben eines Menschen dreht. Wenn wir diesen Fokus längere Zeit einnehmen, führt auch das zu einer Prägung, die uns immer mehr bestimmen kann. Prägungen bilden sich nämlich nicht nur in unserer Kindheit, sondern genauso in unserem erwachsenen Leben.
Als Therapeut mache ich immer wieder die Erfahrung, dass Menschen zu mir in die Therapie kommen und ich oft bereits in den ersten Sätzen erkennen kann, ob die Person bereits längere Zeit in Therapie war. Oft höre ich heraus, welche Therapieform diese Person besucht hat. Die Sichtweise der jeweiligen Therapieform hat das Erleben und das Verständnis der Person bereits geprägt.
Das tiefenpsychologische Verständnis von Heilung ist so stark in die kollektive Vorstellung von Therapie eingesickert, dass die meisten Menschen ohne Vorbildung denken, in der Therapie gehe es um die Kindheit, und meist ohne Aufforderung des/r Therapeuten/in beginnen, von prägenden Erfahrungen aus ihrer Kindheit zu sprechen. Generationen von Hilfesuchenden haben in Therapien immer wieder über ihre Kindheit gesprochen, sie immer wieder durchlebt und dadurch versucht, diese Grunderfahrungen zu verarbeiten und sich innerlich zu befreien.
Die moderne Gehirnforschung
In den letzten Jahren stellen Erkenntnisse aus der modernen Gehirnforschung das tiefenpsychologische Verständnis in Frage. Die Gehirnforschung bestätigt, dass frühe Beziehungen und Grunderfahrungen die Verknüpfungen in unserem Gehirn prägen. Gerade frühe Erfahrungen bewirken starke Nervenverbindungen, die wie „Gehirnautobahnen“ fungieren. Wie bei einer realen mehrspurigen Autobahn, die es ermöglicht, uns mit wenig Energieaufwand sehr schnell durch die Landschaft zu bewegen, führen auch Autobahnen in unserem Gehirn dazu, dass das Nervensystem diese Wege besonders häufig nutzt, da sie viel weniger Energieaufwand erfordern.
Gehirnautobahnen entstehen dadurch, dass ein bestimmter Gedanke oder ein bestimmtes Gefühl kontinuierlich wiederholt werden. Besonders emotional besetzte Gedanken oder Ereignisse hinterlassen sehr tiefe Spuren. Je öfter wir eine Gedankenstraße benutzen, desto breiter wird sie und umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir diese Straße wieder benutzen, bis sie irgendwann eine breite Autobahn geworden ist. Es handelt sich hier um eine positive Feedbackschleife.
Prägungen, also Gehirnschnellstraßen oder vielleicht sogar Autobahnen, entstehen nicht nur in unserer Kindheit, sondern können ein Leben lang ausgebildet werden. Unser Gehirn ist und bleibt lernfähig. Das ist die gute Botschaft der modernen Gehirnforschung.
Wenn wir diese grundlegende Erkenntnis, wie unser Gehirn funktioniert, betrachten, wird klar, dass die tiefenpsychologische Sichtweise nicht nur eine Segnung ist, sondern auch eine große Gefahr enthält. Wenn wir in der Therapie immer und immer wieder alte Kindheitserfahrungen aufsuchen, sie erneut durchleben und beschreiben, dann wird dabei jedes Mal die alte Gefühls- und Gedankenautobahn erneut aktiviert und damit auch verstärkt. Das ist aber genau das Gegenteil von dem, was sich Therapeut/in und Patient/in wünschen. Denn schließlich suchen sie danach, innerlich von negativen Grundprägungen freier zu werden und nicht, sie zu verstärken.
Das, was uns teilweise hilft, uns unserer Prägungen bewusster zu werden und sie zu integrieren, kann also gleichzeitig dazu führen, dass diese Prägungen sich vertiefen und immer mehr unser Leben bestimmen. Wenn wir uns das bewusst machen, erscheint uns die tiefenpsychologische Sicht- und Vorgehensweise zutiefst fragwürdig und wir müssen auf die Suche nach einem neuen Heilungsverständnis gehen, das mit den Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung in Einklang steht.
Das Potenzial der Gegenwart
Was könnte ein neues Heilungsverständnis sein, das den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie und der modernen Gehirnforschung entspricht?
Einigkeit besteht in beiden Disziplinen darüber, dass unser Gehirn grundsätzlich starke Muster ausbildet, die sehr schnell aktiviert werden können und dann unser gesamtes Erleben bestimmen. Hier entsteht eine enorme Unfreiheit, die dazu führen kann, dass wir immer wieder von alten negativen Gefühls-, Denk- und Handlungsmustern überflutet werden. Diese Unfreiheit zu überwinden und nicht mehr von Mustern bestimmt zu sein, muss das Ziel der Psychotherapie sein. Dabei kann es aber nicht darum gehen, immer und immer wieder kindliche Erfahrungen aufzusuchen und zu durchleben, sondern wir müssen unterstützt werden, unsere Aufmerksamkeit in einem Bereich zu verankern, der von alten Prägungen möglichst frei ist.
Gibt es überhaupt solch einen Bereich, der von alten Mustern frei ist und uns gleichzeitig immer zur Verfügung steht? Ja, die Gegenwart. Der lebendige Augenblick ist in seiner schöpferischen Dynamik überraschend und von Mustern frei.
Wenn wir lernen, immer und immer wieder unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu richten und uns dort zu verankern, entsteht eine neue Gewohnheit in unserem Geist. Nämlich die Fähigkeit, uns nicht auf alten Gehirnautobahnen zu bewegen, sondern immer wieder in die Gegenwart hinein aufzuwachen: jetzt im Körper die konkreten Empfindungen spüren, jetzt unmittelbar wahrnehmen in welcher Situation wir gerade sind, jetzt den Schluck Tee schmecken und genießen.
Diese Ausrichtung auf die Gegenwart wird in vielen Meditationsformen praktiziert. In diesem Sinne ist die Meditation ein Weg, der uns darin systematisch unterstützt, das Potenzial der Bewusstheit dazu zu nutzen, aus Gedankenmustern herauszutreten und uns für das lebendige, schöpferische Jetzt zu öffnen. Bewusstheit oder auch Achtsamkeit ist hier der Schlüssel für die innere Befreiung.
Achtsamkeit bedeutet, mir des inneren und äußeren Erlebens bewusst zu sein. Gerade diese Bewusstheit ermöglicht es mir, die Aufmerksamkeit von Gedankenmustern abzuziehen und wahrzunehmen, wie der gegenwärtige Moment in Erscheinung tritt. Daher gewinnt die Achtsamkeit für den gegenwärtigen Moment in der Psychotherapie zunehmend an Bedeutung. Achtsamkeitsbasierende Verfahren wie das MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) von Jon Kabat-Zinn haben in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt.
Nicht unerwähnt sei hier, dass zur Gegenwart genauso das gegenwärtige Beziehungspotential gehört. Hier kann die therapeutische Beziehung sehr heilsam wirken, wenn sie nicht nur als Feld von alten Übertragungen gesehen und behandelt wird, sondern vorwiegend die Aufmerksamkeit darauf liegt, was in der therapeutischen Beziehung im Hier und Jetzt stattfindet. Eine mitfühlende, interessierte Beachtung des/r Therapeuten/in bilden hier die Basis für neue heilsame Erfahrungen in der gegenwärtigen Beziehung und sind zusätzlich die Grundlage dafür, dass die behandelte Person sich selbst immer mehr eine liebende Beachtung schenkt.
Das Tiefenpotenzial der Gegenwart
Gegenwart ist viel mehr als achtsam zu atmen, zu spüren oder zu hören. Unmittelbarkeit in der Wahrnehmung ist lediglich die Oberflächendimension der Gegenwart. In der Tiefe beinhaltet jeder Augenblick auch ein seelisches Potenzial, in das wir Kraft unserer Bewusstheit eintauchen können und das uns zutiefst erfüllen kann. Diese seelische Dimension der Gegenwart wird oft übersehen und in vielen Meditationsformen nicht unterstützt.
Es ist jedoch sehr wichtig, einen lebendigen Zugang zur Tiefendimension unserer Seele zu haben, da unsere Seele nach tiefen erfüllenden Erfahrungen hungert. Wenn wir längere Zeit keine intensiven, lebendigen Erfahrungen machen, erscheint uns das Leben als flach und sinnentleert. Ein innerer Mangel breitet sich aus, wodurch dann sehr schnell wieder alte Gefühlsautobahnen aktiviert werden. Die Seele ist wie ein kleines Kind und will sich fühlen. Wie ein kleines Kind hat sie lieber negative Aufmerksamkeit als gar keine. So aktiviert sie alte negative Gefühlsautobahnen, denn hier ist ein intensives Erleben sichergestellt, wenn auch ein unangenehmes.
Wenn wir daher verhindern wollen, dass wir immer wieder in alte Gefühlsbahnen hineingezogen werden, dann müssen wir die Sehnsucht unserer Seele nach Intensität ernst nehmen und lernen, das seelische Potenzial des Augenblicks zu nutzen und darin einzutauchen. In der Transpersonalen Prozessarbeit nutzen wir dazu die Praxis des Inneren Erforschens, um die gegenwärtige Seelenrealität zu erfahren und daraus zu leben. Wir sind dann im wahrsten Sinne des Wortes „beseelt“.
Gerade hier, in der Tiefendimension unserer Seele, kommen wir in Kontakt mit spirituellen Grundqualitäten, wie unbedingter Präsenz, Grundvertrauen, ein von außen unabhängiger Selbstwert, Mitgefühl, Verbundenheit oder auch einer inneren Fülle. Diese Erfahrungen einer in der Tiefe gründenden Seele werden essenzielle Erfahrungen genannt, da sie aus unserem innersten Sein - der Realität des Bewusstseins - heraus von selbst auftauchen. Sie sind die tiefsten Ressourcen, die in unserem Leben zur Verfügung stehen.
Der/ie aufmerksame Leser/in wird bemerken, dass sowohl die Tiefenpsychologie als auch die Transpersonale Prozessarbeit den Begriff der „Tiefe“ verwenden und in beiden Fällen bezieht er sich auf eine seelische Dimension. In der Tiefenpsychologie bezieht er sich allerdings auf unsere Vergangenheit, wo hingegen der Begriff der Tiefe in der Transpersonalen Psychologie eine gegenwartsbezogene Bedeutung hat. Wir können in die aktuelle schöpferische Gegenwart auf eine solche Weise eintauchen, dass sich von innen her unsere Essenz öffnet und uns durchdringt. Der Begriff „Tiefe“ macht hier einen großen Sinn, da es sich nicht nur um intensive, also tiefe Erfahrungen handelt, sondern weil wir gleichsam auf den Grund unserer Seele hinabtauchen, in dem unsere Essenz immer anwesend ist und auf uns wartet.
Diese essentiellen Grunderfahrungen in der Tiefe unserer Seele sind zutiefst heilsam, da sie genau die Qualitäten beinhalten, die uns in unseren negativen Erfahrungen in der Kindheit und den daraus resultierenden Gefühls- und Handlungsmustern fehlen. Das Heilungspotenzial für unsere Gefühlsautobahnen steckt in uns und ist potentiell in jedem Augenblick in unserer Seele präsent und damit verfügbar. Die meisten Menschen sind nur zu sehr an der Oberfläche ihres Lebens fixiert, als dass sie das essenzielle Potenzial entdecken und für ihr Leben nutzbar machen könnten.
Wie können wir das Tiefenpotenzial der Seele nutzen?
Um einen bewussten Zugang zur Tiefendimension unserer Seele zu bekommen, sind mehrere grundlegende Schritte notwendig:
- Zum einen muss unsere Fähigkeit zur Achtsamkeit geschult werden. Dies bedeutet, dass wir lernen, das gegenwärtige innere und äußere Erleben wahrnehmen und beschreiben zu können.
- Des Weiteren ist es notwendig, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenwart richten. Die Essenz ist eine Dimension des Gegenwärtigen und daher können wir nur über die Gegenwart in die Essenz eintauchen. Das ist immer möglich, sogar wenn wir von alten negativen Gefühlen besetzt sind. Wenn wir nicht in die Geschichte hineingehen und sie immer weiter ausbreiten, sondern uns fragen, wie wir dieses Erleben jetzt in unserem Körper und den anderen Wahrnehmungskanälen erfahren, dann können wir sogar ein altes Erleben dazu nutzen, uns im Jetzt zu verankern. Hier unterscheidet sich das Vorgehen der Transpersonalen Prozessarbeit ganz klar von tiefenpsychologischen Ansätzen. Der/ie Klient/in wird hier unterstützt, seine/ihre Aufmerksamkeit auf das Jetzt auszurichten, ohne etwas verdrängen oder wegschieben zu müssen und ohne der alten Geschichte zu viel Raum zu geben und damit die alte Gehirnbahn zu stärken.
- Die Orientierung am Jetzt ist auch der entscheidende Faktor auf der Beziehungsebene zwischen Therapeut/in und Klient/in. Übertragungen (alte Beziehungsgefühle) auf den/die Therapeuten/in werden stattfinden, müssen aber nicht dazu genutzt werden, um sie als Tor zu vergangenen Beziehungserfahrungen zu nutzen, sondern können genauso gut im Hier und Jetzt untersucht werden und den Zugang zu einem heilsamen Beziehungsfeld in der Gegenwart eröffnen.
- Um nun in das essentielle Potenzial unserer Seele einzutauchen, müssen wir lernen, dieses gegenwärtige Erleben auch in der Tiefe zuzulassen. Erst dann tauchen wir von der Oberfläche des gegenwärtigen Erlebens in die Tiefe unserer Seele und es können sich essenzielle Qualitäten entfalten. Dieser Vorgang ist vergleichbar mit der Situation, im Meer zu schwimmen. Solange wir uns nur an der Oberfläche bewegen, werden wir die Dimensionen unter Wasser bestenfalls erahnen können. Erst wenn wir tauchen und uns sinken lassen, eröffnen sich uns die Tiefen des Meeres.
Genau dieser letzte Schritt, das bewusste Hinabtauchen in die Tiefe unserer Seele, ist alles andere als selbstverständlich. Unser normales Alltagsleben unterstützt in aller Regel seelische Tiefe nicht, sondern hält uns auf einer funktionalen Ebene beschäftigt, bei der nur eine sehr oberflächliche Wahrnehmung aktiv ist. Und selbst wenn wir Meditation praktizieren und dabei unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf den gegenwärtigen Moment richten, bleiben wir dabei meist an der Oberfläche einer unmittelbaren Wahrnehmung. Das Potenzial der seelischen Tiefe des gegenwärtigen Moments wird dabei meist nicht unterstützt und erfahren.
Wenn wir daher bewusst aus der Tiefe unserer Seele leben wollen, müssen wir genauso wie in der Meditation Räume schaffen, in denen wir unsere Aufmerksamkeit dem gegenwärtigen Erleben zuwenden und dort nach innen tauchen. Erst wenn dieser Vorgang ein genauso selbstverständlicher Teil unseres Lebens geworden ist wie die Meditation, wird sich seine Wirkung voll entfalten können. Wir leben dann aus unserer Essenz heraus und das aktuelle seelische Potenzial kann sich schöpferisch durch uns entfalten. Wir sind dann nicht mehr in erster Linie das Produkt von alten Erfahrungen und Prägungen, sondern ein lebendiger und freier Mensch, dem es möglich ist, sein natürliches Wesen zu leben.
Sind wir dann für immer geheilt?
Jedes Mal, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das gegenwärtige Erleben richten, entziehen wir den alten Autobahnen in unserem Geist die Aufmerksamkeit und damit ein wenig Energie. Und jedes Mal, wenn wir in die Tiefe unserer Seele eintauchen und dabei mit unserer Essenz in Kontakt kommen, stärken wir eine neue heilsame Verknüpfung in unserem Geist.
Natürlich verschwinden dadurch alte Gedankenautobahnen nicht sofort. Gerade sehr breite Gedankenbahnen bleiben potentiell über viele Jahre in unserem Leben bestehen, auch wenn wir sie lange Zeit nicht mehr benutzen. Daher kann es immer geschehen, dass ein starker Schicksalsschlag oder ein Lebensumbruch alte Gehirnautobahnen aktiviert und wir selbst nach Jahrzehnten plötzlich wieder Zustände aus unserer Kindheit durchleben.
Doch wenn die neue Gewohnheit, unsere Aufmerksamkeit auf das Jetzt und das Tiefenpotenzial unserer Seele zu richten, bereits verankert ist, haben wir auch in so einem Fall sehr schnell die Möglichkeit, die nächste Ausfahrt aus der alten Autobahn zu nehmen und uns dem aktuellen seelischen Potenzial zuzuwenden und darin zu verankern.
Heilung in diesem Sinne ist kein statischer Zustand, in dem wir unangreifbar in unserer Mitte ruhen und in dem es keine alten Muster mehr gibt, sondern sie ist eine lebendige, fließende Balance, die immer wieder neu hergestellt werden muss. Wir „norden“ uns wie eine Kompassnadel immer wieder auf die Gegenwart und auf die aktuelle seelische Essenz ein. Auf diese Weise nutzen wir das Potenzial unserer Bewusstheit, aus alten Gehirnautobahnen herauszutreten und sie damit systematisch zu schwächen und gleichzeitig tief in der Gegenwart und in der Seele verankert zu sein.
Ein Paradigmenwechsel
Die neuen Erkenntnisse der Gehirnforschung stellen für die Psychotherapie eine Herausforderung dar. Grundlegende Sichtweisen und darauf aufbauende Verfahren werden in Frage gestellt und die Notwendigkeit wächst, sich neuen Methoden zu öffnen. Die jahrzehntelange Fokussierung auf das Problem und die Vergangenheit des/r Patienten/in kann nicht länger im Zentrum der Therapie stehen. Die Fokussierung auf Ressourcen und die Gegenwart werden in Zukunft eine ganz andere Gewichtung erfahren.
Das bedeutet, dass in der Psychotherapie ein grundlegender Paradigmenwechsel von statten geht. Bis dieser Perspektivenwechsel im Bewusstsein von Therapeuten/innen und Patienten/innen in der Breite angekommen ist, wird es sicherlich noch viele Jahre dauern. Doch bereits jetzt gibt es einzelne Therapeuten/innen und Methoden, die im Einklang mit den neuen Erkenntnissen aus der Gehirnforschung arbeiten und wegweisend für die Entwicklung der Psychotherapie sein können.
Autor:
Richard Stiegler
www.seeleundsein.com