Die personale und die transpersonale Entwicklung

Menschliche Entwicklung ist vielschichtig und erscheint uns oft chaotisch und unübersichtlich. Doch bei genauerer Betrachtung lassen sich zwei natürliche Reifeschritte voneinander unterscheiden: die Integration unserer Schattenanteile, die dazu führt, dass wir mit allen Potentialen unseren Platz in der Welt einnehmen können, und das Entdecken der spirituellen Dimension unseres Daseins.

„Wie sehr sehne ich mich nach einer Zeit des Friedens und jetzt kämpfe ich in diesem Meditationskurs seit Tagen mit Müdigkeit und Trauer.“ Eine typische Erfahrung von mir, die ich auch bei anderen Meditierenden beobachten konnte. Eigentlich suchen wir inneren Frieden, doch unser Weg führt uns oft lange Zeit durch den Dschungel unserer Persönlichkeit mit schwierigen Gefühlen und inneren Abgründen. „Läuft da etwas falsch?“ fragen wir uns. „Was ist mit der Stille und den spirituellen, transpersonalen Einsichten, die uns durch die Praxis der Meditation versprochen werden?“

Offensichtlich verlangt uns der innere Weg viel mehr Geduld ab, als wir uns das zunächst vorstellen. Auch mein Weg war jahrelang von vielen Auf und Abs begleitet, bis sich tiefere Einsichten in die mystische Dimension des Seins einstellten. Zum Glück galt mein Interesse immer auch schon der Psychologie, so dass meine seelischen „Löcher“ und inneren Krisen einen Bezugsrahmen vorfanden, in dem sie nicht nur als Hindernis betrachtet wurden, sondern auch bearbeitet werden konnten.

Vor 30 Jahren, als meine innere Suche begann, beäugten sich viele spirituelle LehrerInnen und PsychotherapeutInnen noch misstrauisch. Die einen glaubten daran, dass man mithilfe von Meditation und durch Einsicht in die mystische Dimension der Wirklichkeit mit einem Schlag die Persönlichkeitsgrenzen und alle inneren Schwierigkeiten überwinden könne. Die anderen betrachteten Meditationspraxis nicht selten als Weltflucht und Ausweichmanöver gegenüber menschlichen Beziehungen und setzten auf wachsende Beziehungsfähigkeit. Beide Perspektiven hatten Recht und waren doch auch begrenzt. Einsicht in die mystische Dimension unseres Seins integriert noch nicht automatisch unsere Persönlichkeit. Wie viele Berichte gibt es über LehrerInnen, die fraglos einen Zugang zu spirituellen Erkenntnissen haben und trotzdem auf der Beziehungsebene unreif handeln?

Umgekehrt kann man beobachten, dass uns eine integrierte Persönlichkeit und reife Beziehungen nicht alleine Sinn geben und glücklich machen. Schwere Sinnkrisen sind gerade auch möglich, wenn sich unsere wichtigsten Ziele im Leben erfüllt haben. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist Leo Tolstoi, der auf dem Höhepunkt seines beruflichen und privaten Erfolges in eine tiefe Sinnkrise stürzte.

Trotzdem beinhalten beide Perspektiven einen wichtigen Aspekt für menschliches Reifen und wenn wir verstehen, auf welchen Reifeschritt sich die jeweilige Perspektive bezieht, machen sie beide Sinn und ergänzen einander. Das wird in den letzten Jahren zunehmend von MeditationslehrerInnen und TherapeutInnen erkannt und es findet eine breite Entwicklung der gegenseitigen Öffnung statt. Erst wenn wir beide Reifungsschritte - die personale und die transpersonale Entwicklung - klar sehen, werden unsere Wachstumskrisen verständlich und wir können uns unseren ganz individuellen Wachstumsweg zugestehen.

Die personale Entwicklung

Der Mensch entwickelt seine Persönlichkeit im Wechselverhältnis der Beziehungen, in denen er lebt. Obwohl alle Potentiale für unsere menschliche Entwicklung bereits angelegt sind, brauchen wir als Kind die Bestätigung von außen, um unsere natürlichen Wesenseigenschaften entwickeln zu können. Da kein Mensch optimale Bedingungen hat, werden viele unserer natürlichen Anlagen nur unvollständig ausgebildet und wir verlieren häufig den Kontakt zu ihnen. Psychologisch ausgedrückt sinken sie ins Unbewusste oder werden verdrängt.

Es bleibt ein Mangelgefühl, das wir subjektiv häufig gleichsam als Loch empfinden: Wenn uns beispielsweise unsere Liebe abhanden gekommen ist, fühlen wir uns ungeliebt und strengen uns an, die Liebe anderer zu gewinnen. Wenn wir uns nicht getragen fühlen vom Leben, fühlen wir uns haltlos und versuchen das Leben und unsere Beziehungen zu kontrollieren. Wurde der Wille unterdrückt, fühlen wir uns unsicher und schwach und passen uns an. So entwickelt sich in den Beziehungserfahrungen die Persönlichkeit, das Ich mit seinen Stärken, aber auch mit seinen Löchern und Abwehrstrategien.

Der erste Entwicklungsschritt, der vor allem durch die Psychotherapie unterstützt wird, ist die personale Entwicklung. Dabei werden natürliche Potentiale, die wir aus dem Blick verloren haben, wieder integriert. Bildlich gesprochen gibt es Bereiche, die im Schatten liegen, und es gilt, dort wieder Licht hinzubringen, um als Mensch immer vollständiger zu werden. Ich möchte das an ein paar Beispielen deutlich machen.

Nehmen wir an, ein Mensch hat gelernt, seine Bedürftigkeit zu unterdrücken, da er als kleines Kind die Erfahrung einer abwesenden Mutter gemacht hat. Für diesen Menschen bedeutet personale Entwicklung, seine Bedürftigkeit wieder als eine natürliche, menschliche Eigenschaft anzunehmen und damit wieder die Fähigkeit zurückzugewinnen, für seine Bedürfnisse einzutreten, z.B. indem er lernt, um Zuwendung zu bitten. Für eine Person, die sehr strenge Eltern hatte und deren Wille unterdrückt wurde, wäre der erste Entwicklungsschritt, ihren Willen wieder als eine natürliche, wertvolle Kraft zu erfahren und es zu wagen, andere mit eigenen Bedürfnissen, Sichtweisen und Grenzen zu konfrontieren. Oder für eine Person, die sich aufgrund früher Beschämung als wertlos erlebt hat und diese Wertlosigkeit dadurch überdeckt, dass sie immer für andere da ist, wäre der erste Schritt, zu wagen, sich zuerst um sich selbst zu kümmern. Die Empfindung von Wertlosigkeit wird sich zunächst verstärken, doch mit der Zeit wird die Person ihren wahren Wert entdecken können, der im Sein liegt und nicht im Tun.

Je mehr wir innere, verdrängte Anteile zulassen, umso vollständiger und integrierter werden wir. Wir entwickeln ein gesundes Selbstwertgefühl, können unseren Gefühlen Raum geben und brauchen uns nicht für sie zu schämen. Wir können für unsere Wünsche und Bedürfnisse eintreten und können uns gegebenenfalls auch klar abgrenzen. Mit anderen Worten: wir entwickeln die Fähigkeit zu echtem und mitfühlendem Kontakt, ohne uns ständig mit anderen zu verstricken. Auf diese Weise geschieht kontinuierlich eine Entwicklung hin zu persönlicher Vollständigkeit und Integrität. Ist unsere Persönlichkeit gereift und integriert, werden wir unseren Platz in der Welt in einer umfassenden Weise einnehmen können.

Die transpersonale Entwicklung

Wenn sich diese Integration zu einer persönlichen Vollständigkeit vollzogen hat, gibt es dann noch die Notwendigkeit für eine spirituelle Entwicklung? Ist jemand, der seinen Platz in der Welt einnimmt und für seine Bedürfnisse, Grenzen etc. sorgen kann, nicht glücklich? Leider nur sehr bedingt und das aus folgendem Grund: Selbst wenn wir innere Anteile weitgehend integriert haben, sind wir dennoch Begrenzungen im Leben ausgesetzt. Wir haben vielleicht gelernt, unsere Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen und sie auszudrücken, aber sie werden trotzdem häufig nicht erfüllt. Jeder, der in einer Partnerschaft lebt, weiß, wie oft Bedürfnisse nicht erfüllt werden, selbst wenn man sie annimmt und ausdrückt. Wir wissen vielleicht, was wir wollen oder nicht wollen und haben gelernt, dafür einzutreten, aber wie oft kümmert sich das Leben darum? Wir werden weiterhin mit Ohmacht und Verlust konfrontiert. Das ist nicht unser persönliches Problem, wie wir zunächst häufig in solchen Situationen denken. Ohnmacht und Verlust sind nicht die Folge unseres Versagens, sondern ergeben sich als Wirkung aus der natürlichen Gesetzmäßigkeit des ewigen Wandels. Das Leben ist viel größer und mächtiger als unsere Vorstellungen und Vorlieben und spült diese manchmal wie ein reißender Strom mit Macht hinweg.

Daraus ergeben sich entscheidende Fragen: Wie können wir glücklich werden, wenn unsere Erwartungen und Bedürfnisse an das Leben und das Leben selbst oft so weit auseinanderklaffen? Gibt es eine tiefere Erfüllung, auch wenn unsere Bedürfnisse nicht gestillt werden? Wie können wir vertrauen angesichts der fundamentalen Unsicherheit des Lebens, angesichts von Verlust, Krankheit und Tod? Mit anderen Worten: Was trägt uns?

Diese und ähnliche Fragen markieren den Übergang zur transpersonalen Entwicklung. Wir sehen, dass das Leben selbst uns dorthin führt, uns spirituelle Fragen zu stellen. So wird irgendwann natürlicherweise eine spirituelle Sehnsucht in uns erwachen. Es ist die Sehnsucht nach einer tieferen Sicherheit, als sie uns das normale menschliche Leben bieten kann. Die Sehnsucht nach einem tieferen Sinn, als uns äußerer Wohlstand, Ansehen oder Bedürfniserfüllung geben können. Und die Sehnsucht, uns selbst und das Leben an seiner Quelle zu berühren, zu erkennen, wer wir wirklich sind jenseits oberflächlicher Rollen und Eigenschaften. Diese Sehnsucht entwickelt einen Sog in uns und kann nur befriedigt werden, wenn wir den transpersonalen Raum entdecken, die mystische Dimension unseres Seins. Diese Sehnsucht ist ein zentraler Motor für die spirituelle Entwicklung und je stärker diese Kraft in uns wirkt, desto selbstverständlicher werden wir alles daran setzen, den transpersonalen Raum zu entdecken.

Die zweifache Natur des Bewusstseins

Was verstehen wir nun aber unter dem transpersonalem Raum? Was ist die mystische Erfahrung, das Einswerden mit Gott, das eine so starke Anziehung auf uns hat? Transpersonale Erfahrung ist keine Erfahrung im herkömmlichen Sinne. Sie ist vielmehr ein mehr oder weniger tiefer Einblick in eine Dimension jenseits unserer üblichen Erfahrungen. Und diese Dimension ist immer da, ist die Quelle allen Seins und aller Erfahrung und damit grenzenlos, unberührbar, zeitlos, unabhängig von äußeren Umständen.

Um das zu verstehen, ist es notwendig, gewöhnliche Erfahrungen näher zu untersuchen. In jeder Erfahrung gibt es die Möglichkeit, sich ihrer bewusst zu sein. Ob ich lese, denke, atme oder gehe, ich kann mir dieser Erfahrung bewusst sein. Gäbe es kein Bewusstsein gäbe es auch keine Erfahrung. Das bedeutet, das Grundelement jeglicher Erfahrung ist die Fähigkeit des Bewusstseins. Das ist zunächst keine mystische Entdeckung, sondern eine schlichte Beobachtung, die uns irgendwie klar ist und in ihrer Bedeutung meist doch nicht erkannt wird.

Wir könnten nun das Bewusstsein noch genauer beobachten. Ändert es sich, wenn wir eine angenehme oder eine schmerzhafte Erfahrung machen? Ist Bewusstsein selbst davon berührt, ob wir einen konstruktiven oder einen destruktiven Gedanken haben? – Natürlich nicht. Es gibt also einen Bereich, der immer gleich bleibt: Bewusstsein. Bewusstsein kann sich mit jeder Erfahrung verbinden: mit Gedanken, mit allen Arten von Gefühlen, mit Körperempfindungen, mit Geräuschen und Farben. Alles erscheint im Raum des Bewussteins und doch bleibt das Bewusstsein selbst völlig unberührt davon. Daher wird das Bewusstsein häufig mit einem Spiegel verglichen. Der Spiegel kann sich mit jedem Objekt unterschiedslos verbinden und bleibt doch vollkommen leer. Er bleibt unberührt von den Dingen, die er widerspiegelt.

Wenn wir dies erkennen, können wir unterscheiden zwischen zwei Arten von Bewusstsein: Objektbewusstsein und absolutes Bewusstsein. Das Objektbewusstsein ist unser übliches Alltagsbewusstsein. Wir nehmen immer etwas - Objekte - wahr: z.B. Gedanken, Geräusche, Menschen oder Körperempfindungen. Alles was benannt, beschrieben und wahrgenommen werden kann, sind Objekte oder Phänomene. Aber all diese Objekte erscheinen im Bewusstsein und vergehen wieder, ohne eine Spur zurückzulassen. Dieses Bewusstsein wird absolutes Bewusstsein oder Gewahrsein genannt. Man könnte nun einwenden, dass doch Erfahrungen Spuren in uns hinterlassen, nämlich Erinnerungen und Muster. Aber Erinnerungen sind auch nur Gedanken und damit Objekte. Erinnerungen erscheinen im Bewusstsein, aber berühren es nicht. Selbst der Ich-Gedanke ist nur ein Objekt des Verstandes, das im Spiegel des Gewahrseins erscheint. In diesem Sinne ist das absolute Bewusstsein der Ursprung oder Urgrund, durch den jegliche Erfahrung erst möglich wird. Dabei ist wichtig, dass wir begreifen, dass absolutes Bewusstsein keine Erfahrung ist, sonst wäre es ja wieder ein Objekt und damit benennbar, greifbar und vergänglich. Absolutes Bewusstsein ist das Subjekt, das wir nicht erfahren können, wir können es nur sein.1

Stille und Transzendenz

Absolutes Bewusstsein ist also vollkommen unberührt, transparent, unendlich. Aus diesem Grund wird es mit Stille in Verbindung gebracht. Vollkommenes Unberührtsein ist unendlich still. Es ist die Stille selbst. Wenn wir nun unsere Aufmerksamkeit, die normalerweise immer auf die Erfahrungsobjekte schaut, auf das Bewusstsein lenken und letztlich vollkommen in das Aufmerksamsein eintauchen, erfahren wir eine unbedingte Stille, die auch als (göttliche) Kraft oder unendliche Weite in Erscheinung tritt.

Stille ist übrigens nicht dasselbe wie Ruhe, womit sie manchmal verwechselt wird. Ruhe ist das Fehlen von Lärm und Bewegung, wogegen Stille unberührt bleibt von Lärm und Bewegung. Sie ist eine Dimension jenseits von Lärm und Bewegung und muss daher nichts ausschließen. Stille schließt alles anstrengungslos ein und ist doch vollkommen unberührt von allem. Die Stille des transpersonalen Raumes können wir nur berühren, wenn wir über Ich-Grenzen und Selbstkonzepte hinausgehen. Zwei Beispiele können verdeutlichen, was das konkret heißen mag: Eine Person, die besetzt ist von unerfüllten Bedürfnissen, muss auf der personalen Ebene lernen, zu eigenen Bedürfnissen zu stehen, aber im transpersonalen Entwicklungsschritt muss sie letztlich die Vorstellung aufgeben, dass Bedürfnisse gestillt werden müssen, um Erfüllung zu erlangen. Es ist also ein Zustimmen zum Mangel notwendig. Erst dann kann die Person ohne Vorliebe und vollkommen annehmend den Mangel beobachten. Je tiefer sie ins Beobachten selbst eintaucht, desto stärker entfaltet sich eine Präsenz in ihr, die keine Unerfülltheit kennt. Denn äußerer Mangel genauso wie äußere Befriedigung spiegeln sich im Bewusstsein, aber berühren es nicht. Oder denken wir an eine Person, die ein Wertloch hat und die Überzeugung, dass sie so, wie sie ist, nicht wertvoll sei. Wenn sie das Gefühl der Wertlosigkeit ganz zulässt und dabei tiefer in die Stille eintaucht, entdeckt sie vielleicht, dass alles vollkommen gleichwertig und vollkommen ist. Sie entdeckt ihren wahren Wert, der in ihrer Vollkommenheit liegt. Eine Vollkommenheit, die nichts mit unseren üblichen Konzepten von richtig und falsch zu tun hat, sondern mit der tiefen Erkenntnis, dass alles, was existiert, Ausdruck der EINEN Dimension ist. Wie könnte dann irgendetwas wertlos sein?

Was immer uns fehlt oder bedroht, in der Dimension der Stille löst es sich auf. Unser Körper ist verletzlich und vergänglich, aber das Bewusstsein selbst, in dem sich alles spiegelt, ist es nicht. Es ist unberührbar. Unser Körper ist bedürftig, aber das Sein ist in sich vollkommen und vollständig. Der Mensch unterscheidet zwischen gut und schlecht, zwischen wertvoll und wertlos, aber das Bewusstsein selbst tut dies nicht. Im absoluten Bewusstsein ist alles gleichwertig und vollkommen. Unser Verstand identifiziert sich mit dem Körper, was die Wirkung hat, dass wir uns begrenzt und getrennt fühlen, aber das Bewusstsein ist frei von Ich-Grenzen und Ich-Vorstellungen. Hier gibt es nur Einssein, ein grundlegendes Verbundensein mit allem, was existiert.

Die Gefahr, psychische Probleme „spirituell“ zu kompensieren

Klingt das nicht wunderbar? Wozu sollen wir dann zuerst einen personalen Entwicklungsschritt machen? Können wir nicht gleich ins Sein eintauchen und uns das Zulassen von Bedürfnissen und einem persönlichen Willen ersparen? Für manche Ohren ist die Vorstellung sehr verlockend, den personalen Schritt zu überspringen. „Wenn es sowieso darum geht, Bedürfnisse zu transformieren und die innere Fülle zu entdecken, wozu dann den Mangel wahrnehmen und lernen, ihn auszudrücken?“

Das kann jedoch in eine Sackgasse führen, die ich immer wieder bei Meditierenden beobachte. Eine Person, die beispielsweise sehr kontaktscheu ist, könnte für sich lieber schweigende Meditationspraxis wählen als Selbsterfahrungsgruppen, die mit Begegnung arbeiten. Das hat jedoch zur Folge, dass ihr problematisches Lebensmuster sich durch die Kompensation immer weiter verfestigt. Die Isolation nimmt zu, statt ab und die Person verhärtet zunehmend. Daher sollte sie sich auch ihrer Kontaktangst stellen und lernen, dem Kontakt mit Menschen zu vertrauen, und nicht nur zu meditieren und nach innerer Anbindung im Alleinsein zu suchen.

Wenn man einen Menschen nur oberflächlich kennt, kann man manchmal nur schwer zwischen einem Alleinsein, das aus einem Kompensationsmuster und einem Alleinsein, das aus echter innerer Anbindung entsteht, unterscheiden. Der Unterschied ist letztlich, dass die Kompensation immer einen Ausschluss bedeutet, zum Beispiel einen Ausschluss von Kontakt oder Bedürfnissen. Es ist also eine Eingrenzung unseres Seins. Der transpersonale Raum dagegen schließt immer alles ein, auch Mangel und Kontakt.

Wenn wir die Gefahr der Kompensation zum Beispiel beim Thema Bedürftigkeit betrachten, sehen wir, dass die Kompensation „nein“ zu den Bedürfnissen sagt, also: „Ich brauche nichts“. Essentielle Fülle stimmt dagegen dem Mangel vollständig zu. Und um dem Mangel vollständig zustimmen zu können, müssen wir ihn erst einmal richtig fühlen, wir müssen das Loch zulassen. Ansonsten wird sowohl unsere persönliche als auch unsere spirituelle Entwicklung ins Stocken geraten.

Vertrauen und Annehmen

Natürlich ist menschliches Reifen viel komplexer als ein Schema und wir wissen nie genau, auf welcher Ebene sich der nächste Reifeschritt vollziehen will. Was bleibt uns da anderes übrig, als uns der natürlichen Intelligenz unseres Wachstumsprozesses anzuvertrauen? Das Leben führt uns auf seine eigene Weise und es wäre vermessen, wollten wir unsere Entwicklung vorhersagen oder gar kontrollieren. Das würde auch dem großen Reifeschritt widersprechen, der darin liegt, uns dem Lebensfluss vertrauensvoll hinzugeben.

Daher gibt es im personalen, wie im transpersonalen Bereich nur eine innere Haltung, die uns Schritt für Schritt öffnen und wachsen lässt, nämlich Annahme. Es gilt uns annehmend für unsere personalen Bedürfnisse und Löcher zu öffnen, genauso wie für die Grenzen, denen wir im Leben begegnen. In dem Maße wie unsere Fähigkeit zur Annahme wächst, werden wir ohne Anstrengung und ganz natürlich in all unserem Potential als Mensch wachsen.

Quellenangabe:


Artikel ist erschienen im Buch „Was heilt uns? Zwischen Spiritualität und Therapie“; Hg. von Michael Seitlinger im Verlag Herder

Autor:

Richard Stiegler