Wo wartet das Glück?

Wo suchen wir nicht überall nach dem Glück? Im Urlaub, in einem erfüllenden Hobby, in der Familie, in Kindern, im Partner, im Eigenheim, im Sportwagen, im beruflichem Erfolg, im Sport oder in einer Auszeit für uns selbst… Gibt es tatsächlich so viele verschiedene Möglichkeiten, Glück zu finden?

In vielen unserer Motivationen und Handlungen verbirgt sich bei genauerer Betrachtung die Suche nach Glücklichsein. Dabei suchen wir an sehr unterschiedlichen Stellen danach. Aber was ist das Glücklichsein eigentlich? Und wie erfahren wir das Glücklichsein?

Als mein Sohn etwa ein Jahr alt war, habe ich oft erlebt, dass ihn eine spontane Freude durchströmte, nur wenn er jemanden sah. Allein die Begegnung, der Kontakt genügte. Er strahlte und lachte, seine Augen blitzten, sein ganzer Körper drückte Freude aus. Man konnte förmlich sehen, wie ihn das Glück als Energie durchströmte.

Was spüren wir genau, wenn wir gerade glücklich sind? Leichtigkeit, Liebe, Freiheit, ein Kribbeln im Körper und ein Strom von Lebendigkeit in unterschiedlicher Intensität sind typische Gefühle in einem Moment des Glücklichseins. Auch Erwachsene erfahren Momente von Glück ähnlich, aber wir trauen uns in der Regel nicht, wie die Kinder das Glücklichsein in seiner vollen Intensität zu zeigen.

Ist Glücklichsein nur ein Gefühl? Was ist die zugrundeliegende Dynamik, dass in verschiedenen Momenten Gefühle von Glück auftauchen?

Untersuchen wir das an einem Beispiel:
Eine Spitzensportlerin steht ganz oben auf dem Siegertreppchen und nimmt freudestrahlend die Goldmedaille entgegen. Zweifellos ist sie in diesem Moment glücklich. Sie hat erreicht, was sie erreichen konnte. Die Zweite dürfte demnach nicht so glücklich sein. Es könnte sein, dass sie enttäuscht ist, weil sie den Sieg verpasst hat. Es ist aber genauso gut möglich, dass sie noch viel glücklicher ist als die Erste, weil sie nicht mit dem zweiten Platz gerechnet hat. Und es ist sogar denkbar, dass die Erste trotz ihres Sieges nicht glücklich ist, weil sie keinen neuen Weltrekord aufgestellt hat.

Dieses Beispiel zeigt, dass das Glücklichsein entscheidend von den inneren Vorstellungen einer Person abhängt. Solange wir eine bestimmte Vorstellung haben und auf diese fixiert sind, können wir nur glücklich werden, wenn sich diese erfüllt. Mit der Erfüllung fallen die Vorstellung und die damit einhergehende Anspannung ab. Für einen Moment wird es innerlich weit und unser Herz öffnet sich. Wir verspüren Glücksgefühle und Energie.

Glücklichsein ist ein Moment der inneren Öffnung. Das Herz weitet sich und kann frei und natürlich schwingen. Glücklichsein ist somit, auch wenn es von Glücksgefühlen begleitet wird, kein Gefühl, sondern ein innerer Zustand von Offenheit, von Entspannung und Weite. Nicht nur in unserem Verstand wird es weit und Vorstellungen fallen weg, sondern auch unser Herz öffnet sich. In solch einem Moment empfinden wir den Augenblick oder das Leben als Geschenk. Uns erschließt sich die Schönheit und Fülle des Lebens.

Vereinfacht könnten wir sagen:
Glücklichsein ist die Frucht eines offenen Herzens.

In diesem Zustand der Offenheit kann unser Herz frei schwingen und wir sind sehr berührbar. Frei von Anstrengung, von Enge, Bemühen, Wollen, Ansprüchen und Festhalten können wir uns entspannen und sind ganz im Augenblick anwesend. Im Glücklichsein lassen wir los. Es ist somit ein Zustand, in dem wir ganz frei und natürlich sein können. Was also könnte natürlicher sein als das Glücklichsein?

So betrachtet, ist das Glücklichsein kein besonderer, außergewöhnlicher Zustand, sondern unser natürlicher Grundzustand.

Ego und Sein

Ist Glücklichsein und Herzensoffenheit der Grundzustand in unserem Leben? Oder ist es Anspannung und Anstrengung? Ein Gefühl von Verpflichtung? Von Sorge oder Angst? Das Streben nach einem Ideal? Das Verwirklichen von Vorstellungen? Das Ringen um Ziele?

All diesen Zuständen ist gemein, dass mit ihnen ein Gefühl von Enge einhergeht. Nicht nur gedanklich, sondern auch körperlich und seelisch spüren wir Enge. Diese gefühlte, oft chronische Enge erwächst aus den Selbstgrenzen des Egos. Diese inneren Begrenzungen stabilisieren uns zwar und geben uns Struktur, aber erzeugen auch ein Gefühl von Enge.

Da Avabhasa sagt dazu:
„Das Ego ist die Verkrampfung der fühlenden Aufmerksamkeit.“

Dabei sind uns die meisten Selbstgrenzen und auch die Enge, die damit einhergeht, nicht bewusst. Wir können das vergleichen mit chronischen Verspannungen im Körper. Obwohl die Muskeln immer etwas verkürzt sind, spüren wir die Verspannungen nicht mehr.

Entsprechend ist es mit unseren unterschwelligen, geistigen Selbstgrenzen. Sie machen uns innerlich eng, angespannt und damit unglücklich. Aber der Zustand der Enge ist so normal geworden, dass er uns gar nicht mehr auffällt. Wir kommen gar nicht auf die Idee, dass es anders sein könnte und denken, das sei unser natürlicher Grundzustand und nicht die Weite des Glücklichseins.

Doch jenseits der alltäglichen chronischen Fixierung unseres Egos gibt es in uns potentiell auch immer den natürlichen Grundzustand von Entspannung, Weite und Offenheit. Hier fühlen wir uns zutiefst in Ordnung und angenommen, so wie wir sind. Sich angenommen und geliebt zu fühlen, öffnet unser Herz und macht es weit.

Wir alle machen diese Erfahrung immer wieder, wenn wir einen Menschen treffen, von dem wir uns bedingungslos geliebt fühlen. Dann tauchen wir in ein Feld von Angenommensein und Geliebtsein ein und es breitet sich in uns eine Entspannung aus. Eigentlich ist es sogar eine Tiefenentspannung bis in die Zellen hinein und alle Last fällt ab. Unser einfaches, schlichtes Sein genügt hier. Wir können ganz natürlich und authentisch sein. In uns wird es weit und hell, von innen her leuchtend. Eine natürliche Freude taucht auf. Unser Herz öffnet sich. Wir sind glücklich. Einfach so. Der natürliche Grundzustand von Glücklichsein wird erfahren.

Was geschieht hingegen, wenn wir uns in einem Feld von „Nichtangenommensein“ befinden? Wir verspannen uns und strengen uns an geliebt zu werden. In diesem Zustand befindet sich unser Ego, das zuinnerst zwei Grundüberzeugungen hat:

  1. „Ich bin ungeliebt und nicht in Ordnung“
  2. „Ich bin von allem anderen getrennt.“

Beide Überzeugungen machen uns innerlich eng. Beide sind tief verinnerlicht und meist unbewusst. Dennoch bilden sie bei vielen Menschen das Grundgefühl, aus dem heraus sie leben.

Die Suche im Außen

Aus der Enge des Egos heraus sehnen wir uns nach unserem natürlichen Grundzustand von Offenheit und Weite, von Leichtigkeit und Glücklichsein.

Natürlich gibt es immer wieder Momente, in denen wir kurzzeitig dem Glücklichsein begegnen. Situationen, in denen unsere Seele loslässt und wir weit werden. Zum Beispiel bei einer besonderen Stimmung im Urlaub oder durch einen beruflichen oder sportlichen Erfolg oder durch eine besonders schöne intime Begegnung mit einem Menschen. Das sind kostbare Momente, in denen wir unserem natürlichen Sein begegnen.

Aber meist wird uns das gar nicht bewusst, sondern wir denken, es sei der Urlaub oder der Erfolg oder eben dieser Mensch, warum wir gerade glücklich sind. Wir schreiben die Ursache des Glücks der äußeren Situation zu. Und so geschieht es, dass unsere Sehnsucht sich nicht nach innen auf das Offensein und das Glücklichsein selbst richtet, sondern auf bestimmte Lebensumstände, die uns glücklich machen sollen.

Es findet eine Verwechslung statt. Wir suchen das Glück im Außen und in anderen, anstatt in uns. Das ist insofern eine folgenschwere Verwechslung, als wir uns dadurch von äußeren Situationen abhängig machen. Wir denken, „nur wenn die äußere Situation so wird, wie wir uns sie wünschen, können wir glücklich sein.“

Nehmen wir einmal an, wir haben im Urlaub die Erfahrung gemacht, dass wir uns am Meer sehr tief entspannen und ausdehnen konnten. Wenn wir uns dann wieder einmal innerlich eng und angespannt fühlen, sehnen wir uns ans Meer zurück. Im Alltag haben wir jedoch nicht die Möglichkeit, immer ans Meer zu fahren. Wenn wir nun denken, dass wir erst entspannen können, wenn wir tatsächlich am Meer sind, bleiben wir in unserer Enge gefangen.

Erst wenn wir erkennen, dass das Meer nur ein Mittler war und ist, dass wir uns eigentlich nach dem inneren Zustand von Offenheit, Weite und Glücklichsein sehnen, den wir einmal am Meer erfahren haben, erst dann werden wir uns nach innen wenden und entdecken, dass das Potential zum Glücklichsein in uns schlummert und jederzeit zur Verfügung steht. Es liegt im Loslassen und Entspannen - unabhängig davon, wo wir sind, also z. B. auch im Büro.

Dies mag völlig schlüssig klingen, trotzdem kann es sehr lange dauern, dies zu realisieren und die Fixierung auf die Erfüllung unseres Glückes im Außen loszulassen. Oft hängen wir nahezu krampfhaft an der Idee, dass uns der Urlaub, die Beziehung, der Erfolg oder worauf auch immer sich unsere Sehnsucht richtet, die Erfüllung bringen muss.

In der transpersonalen Psychologie nennen wir diesen Vorgang eine Identifikation. Wir sind fixiert auf unsere Vorstellung von Erfüllung und haben keine Freiheit mehr, in eine andere Richtung - nämlich nach innen - zu schauen. Vergleichbar mit einer Katze, die stundenlang unentwegt auf ein Mauseloch starrt und dabei nicht bemerkt, dass ein paar Schritte entfernt eine Maus spazieren geht.

Identifikation macht das Spektrum unserer Wahrnehmung eng. Wieder ein Beispiel für die Enge, die das Ego erzeugt. Durch die Identifikation werden wir daran gehindert, unsere Aufmerksamkeit in andere Richtungen zu lenken. Wenn wir immer nur auf den Boden des Raumes schauen, dann bestimmt diese beschränkte Sicht unsere Welt und unser Erleben. Wir sehen dann nicht die Weite des Raumes, nicht das Licht, das durch die Fenster kommt, und nicht den Himmel. Potentiell ist alles da, aber wir haben keinen Zugang dazu. Das ist die Tragik des Egos, die Tragik der Identifikation.

Drei Arten von Zugängen zum Glücklichsein

In gewissem Sinne kann man sagen, dass unsere Aufmerksamkeit der Schlüssel zum Glücklichsein ist. Je nachdem, in welche Richtung wir unsere Aufmerksamkeit lenken, können wir verschiedene Zugänge zum Glücklichsein wählen. Drei verschiedene Arten von Zugängen stehen uns dabei zur Verfügung:

  1. Der Zugang über die Erfüllung unserer Egowünsche
  2. Der Zugang über das Entfalten unseres natürlichen Wesens
  3. Der Zugang über das unbedingte Glück der Gegenwart

Erst wenn wir diese verschiedenen Zugänge klar erkennen und ihre Dynamik verstehen, können wir sie Kraft unserer Aufmerksamkeit bewusst nutzen. Ansonsten sind wir meist unbewusst fixiert auf einen dieser Zugänge und können die anderen nicht oder nur zufällig erfahren.

Der Zugang über die Erfüllung der Egowünsche

Der erste Zugang zum Glücklichsein besteht in der Erfüllung unserer Egowünsche. Dies ist der Zugang, der uns wohl am Bekanntesten ist. In der Werbung wird dieser Zugang propagiert. Auf Werbeplakaten für Autos, Reisen, Waschmittel etc. sehen wir Menschen mit glücklichen Gesichtern. Wir bekommen suggeriert, dass wir diese Dinge brauchen, um glücklich zu sein. Genauso denkt auch unser Ego, dass Glücklichsein ein Zustand ist, der durch äußere Dinge wie materielle Güter, Unterhaltung, Zuwendung o. ä. bewirkt wird. „Erst wenn wir das bekommen, was wir uns im Außen wünschen, können wir glücklich sein.“ Das ist die Logik des Egos.

Und tatsächlich sind wir - zumindest für einen Moment - glücklich, wenn der äußere Wunsch sich erfüllt. In diesem Augenblick weitet sich unser Inneres. Wir glauben normalerweise, dass das geschieht, weil wir die gewünschte Sache bekommen, aber bei genauerer Betrachtung geschieht die innere Weitung, wenn sich die Fixierung auf die Erfüllung des Wunsches auflöst.

Dabei ist wichtig zu sehen, dass nicht der Wunsch selbst das Problem ist, sondern die Fixierung auf unsere Vorstellung von Erfüllung bewirkt die Enge. Es ist durchaus möglich, Wünsche zu haben, ohne dabei eng zu werden.

Der Zugang über das Entfalten unseres natürlichen Wesens

Der zweite Zugang zum Glücklichsein liegt in der Entfaltung unseres natürlichen Wesens. Der Ausdruck „Wesen“ bezeichnet unsere natürliche Lebendigkeit, unser natürliches Sosein, jenseits aller Vorstellungen unseres Egos und jenseits unserer Anstrengungen und Strategien, um diesen Vorstellungen gerecht zu werden.

Eine Metapher mag den Unterschied zwischen Ego und Wesen verdeutlichen: Stellen wir uns einen Birnbaum vor, der in einem Apfelhain steht. Einen echten Birnbaum würde sein Anderssein nicht stören. Er würde Birnen ausreifen, weil es seinem natürlichen Wesen entspricht, auch wenn um ihn herum nur Apfelbäume wachsen. Wenn dies jedoch ein menschlicher Birnbaum wäre, dann würde er wahrscheinlich denken, „alle Bäume um mich herum sind Apfelbäume, also ist es sicher besser, Äpfel zu bekommen. Ich bin nicht richtig, wenn ich Birnen erzeuge.“ Und er würde sich anstrengen, um Äpfel zu bekommen.

In unserer kindlichen Entwicklung brauchen wir für unsere Entfaltung die Bestätigung von anderen. Wenn wir diese Bestätigung für unser natürliches Sosein nicht bekommen, dann verbiegen wir uns und entwickeln alle möglichen Strategien, um doch noch eine positive Bestätigung zu erhalten.

Unser Wesen dagegen folgt und vertraut der eigenen Natur. Es folgt dem, was sich von innen her natürlicherweise entfalten will. Das braucht keine Anstrengung unsererseits, sondern ist im Gegenteil zutiefst erfüllend.

Den Unterschied, ob wir dem Ego oder dem Wesen folgen, können wir beim Erlernen einer Fremdsprache beobachten:

  • Wenn wir eine Sprache lieben und sie aus unserem ureigensten Interesse heraus lernen wollen, fällt uns das Lernen leicht und wird als sehr beglückend empfunden. Das Lernen als solches bereichert uns bereits und schenkt uns Energie.
  • Müssen wir dagegen eine Sprache erlernen, die uns nicht interessiert, ist das Lernen eine Qual und kostet uns eine Menge Energie und Lebensfreude.

Dieses Beispiel lässt sich auf alle Bereiche unseres Lebens übertragen. Wenn wir uns an unserem natürlichen Wesensinteresse orientieren, also uns von innen her leiten lassen, geht uns alles leicht von der Hand. Es entsteht eine Erfüllung, die relativ unabhängig von äußeren Umständen und auch von äußeren Erfolgen ist. Man nennt dies eine Primärerfüllung.

Wenn wir dagegen Impulsen folgen, die äußere Anerkennung oder Belohnung versprechen, aber nicht mit unserem Wesen übereinstimmen, wird unser Leben vergleichsweise anstrengend sein. Wir befinden uns dann in einer starken Abhängigkeit von äußeren Faktoren. Dies wird sekundäre Befriedigung genannt.

Unserem natürlichen Wesen zu vertrauen, es kennen zu lernen und ihm zu folgen, ist daher ein höchst sinnvoller und sinnstiftender Zugang zum Glücklichsein.

Wollen wir unser Wesen aufspüren, helfen uns Fragen wie:

  • Was interessiert mich zuinnerst?
  • Was ist mir wirklich wesentlich?
  • Was berührt mich tief oder was liebe ich?
  • Was finde ich schön oder was berührt mich?
  • Wobei öffnet sich mein Herz?

Der Zugang über das unbedingte Glück der Gegenwart

Neben den beiden ersten Zugängen steht uns immer noch ein dritter Zugang zum Glücklichsein offen: der Zugang über das unbedingte Glück der Gegenwart. Hier geht es um ein sehr feines inneres Glücklichsein ohne Grund.

Die Gegenwart ist im Gegensatz zu allem, was wir uns sonst wünschen oder entfalten wollen, bereits da, still und bedingungslos. Wir müssen nichts tun. Wir müssen nichts wissen. Wir müssen nichts können. Wir müssen kein anderer werden. Sie ist schon da, als habe sie bereits auf uns gewartet. Die wörtliche Bedeutung von Gegenwart ist, dass sie uns „entgegen wartet“, also auf uns wartet, ganz gleich wie die äußeren Umstände auch sein mögen. In dieser unbedingten Gegenwart finden wir Stille.

Aber was ist die Gegenwart?
Auch wenn die Gegenwart immer und unbedingt auf uns wartet, kann sie nur schwer beschrieben werden. Wir können vielleicht sagen, was wir beim Gegenwärtigsein gerade erfahren, zum Beispiel jetzt in diesem Augenblick das Sehen des Textes oder das Atmen, aber wir können nicht wirklich beschreiben, was Gegenwärtigsein ist.

Gegenwärtigsein kann nicht vom Verstand erfasst werden, da es keine Emotion ist und auch nicht irgendeine Empfindung und auch keine Geschichte hat, da sie immer nur „Jetzt“ ist. Wie soll unser Verstand etwas erfassen, das offensichtlich selbst kein Objekt ist?

Doch auch wenn wir das Gegenwärtigsein selbst nicht beschreiben können, ist es möglich, uns dem Gegenwärtigsein anzunähern: Da gibt es zunächst unsere gegenwärtigen Erfahrungen, wie Hören, Spüren, Atmen, Denken, Wahrnehmungen. Wenn wir uns dieser Erfahrungen unmittelbar bewusst sind, sind wir in diesem Augenblick achtsam.

Je unmittelbarer wir in die gegenwärtige Erfahrung eintauchen, desto stiller wird es dabei innerlich. Unsere inneren Dialoge hören auf und unsere ganze Egoaktivität von Wollen und Nicht-Wollen kommt zur Ruhe. Dabei werden wir entdecken, dass wir nicht nur innerlich stiller und friedlicher werden, sondern dass es sehr erfüllend ist, unmittelbar zu atmen, zu spüren, zu hören.

Unmittelbar, ohne innere Filter die gegenwärtige Erfahrung wahrzunehmen, ist höchst erfüllend. Im Buddhismus sagt man: In solch einem Moment berühren wir das Sosein der Dinge. Wir sind frei vom Ego mit all seinen Eingrenzungen und Verzerrungen.

Diese Art von Gegenwärtigsein steht uns immer offen. Sie braucht keine besonderen Umstände, auch wenn manche Umstände, wie Meditation oder ein Schweigeretreat, sehr unterstützend wirken können. Wir brauchen auch keine besondere Erfahrung. Dieser eine Atemzug genügt. Im Buddhismus heißt es: Jede Erfahrung ist die Richtige. Jede Erfahrung ist gut genug, ist ein Tor zum Erwachen.

Was es braucht, ist lediglich unsere uneingeschränkte, interessierte Aufmerksamkeit. Je vollständiger unsere Aufmerksamkeit in der gegenwärtigen Erfahrung weilt, desto intensiver und erfüllender zeigt sich die Gegenwart. Der Schlüssel ist also auch hier unsere Aufmerksamkeit.

Nun können wir sogar noch tiefer in die Gegenwart eintauchen. Wir können nicht nur unmittelbar das gegenwärtige Erleben beobachten, sondern das Gegenwärtigsein kann in den Fokus unserer Aufmerksamkeit rücken. Dabei richten wir unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf die augenblicklichen Erfahrungsobjekte, sondern auf das Aufmerksamsein selbst. Wir sind dann aufmerksam, ungerichtet und weit, ganz unfokussiert. Wir nennen das „reines Gewahrsein“ oder einfach „Lauschen“.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Stellen wir uns vor, wir sitzen kurz vor Beginn eines klassischen Konzertes auf der Zuschauertribüne. Die Bühne ist bereits dunkel. Nichts rührt sich. Kein Ton ist zu hören. Es herrscht eine freudige Spannung. Wir sind vollständig aufmerksam, obwohl noch nichts geschieht. In diesem kurzen Moment verdichtet sich Stille. Wir sind ganz Lauschen.

Krishnamurti sagt dazu:
„Ich weiß nicht, ob du je bemerkst hast, dass totale Stille herrscht, wenn du vollkommen aufmerksam bist.“

Je tiefer wir in das Lauschen eintauchen, desto mehr zeigt sich eine intensive, unbedingte Präsenz – ein intensives, erfüllendes Dasein, gänzlich unbedingt und ohne Objekte – eine verdichtete Stille, die leer ist, sehr lebendig und erfüllend. Eine Stille, die uns nährt.

Diese unbedingte Stille ist die Gegenwart und sie wartet in jedem Augenblick auf uns. Sie ist die Basis für unser Dasein und für alle Erfahrungen, die wir machen können. Und obwohl sie immer da ist, ist unsere Aufmerksamkeit meist hypnotisiert von den Erfahrungen und den Anforderungen des alltäglichen Lebens, so dass wir den Zugang zu diesem unbedingten Glücklichsein nicht oder nur zufällig erkennen und aufsuchen.

Aber der Zugang liegt am Grund unserer Seele in unserem Bewusstsein. Nirgends sonst. Und er steht uns jederzeit zur Verfügung. Der Zugang ist unsere Aufmerksamkeit, unser individuelles Bewusstsein. Wenn wir das tiefer erfassen, nicht nur kognitiv, sondern durch wiederkehrende Erfahrungen, merken wir erst, wie wunderbar diese Schöpfung eingerichtet ist. Wir haben bereits alles bekommen für unser Glück. Es wird uns geschenkt, einfach so, in jedem Augenblick.
Auspacken müssen wir dieses Geschenk allerdings selbst.

Ein Perspektivenwechsel

Drei verschiedene Zugänge zum Glücklichsein stehen uns also zur Verfügung: Der Zugang über das Ego, über das Wesen und über die Gegenwart. Welcher Zugang ist wohl der Bessere?

Keiner ist besser oder schlechter als der andere. Allerdings erhöht sich unsere Lebensqualität entscheidend, wenn wir die verschiedenen Zugänge kennen und nutzen können und nicht unbewusst auf einen Einzigen fixiert sind. Daraus entsteht eine neue Freiheit. Wir sind dann im Leben nicht auf ein unbewusstes Suchen und Nachjagen angewiesen, sondern können zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Menschseins wählen:

  • Wenn wir unser Ego besser kennen lernen, können wir Mitgefühl für uns selbst und andere entwickeln und lernen, nicht mehr so mit den Dingen verhaftet zu sein.
  • Wenn wir mehr in Einklang mit unserem Wesen leben, werden wir sehr viel mehr Sinn und Erfüllung erfahren und gleichzeitig das Beste, das uns zur Verfügung steht – die Frucht unseres natürlichen Seins - dem Leben und anderen schenken können.
  • Und wenn wir die Stille der Gegenwart entdecken und verwirklichen, wird für uns eine ganz andere Lebensbasis zugänglich. Die Grundlage für unser Leben wird immer mehr ein innerer Frieden und eine innere Erfüllung. Auf der Oberfläche findet weiterhin das ganz normale Auf und Ab des Lebens statt, wie die Wellen auf der Oberfläche eines Sees. Aber der Grund bleibt ruhig.

Gerade auch der letzte Zugang über das Glück der Gegenwart verändert etwas grundlegend in unserer Haltung: Wir jagen nicht mehr dem Glück nach und sind nicht mehr ewig auf der Suche, sondern wir freunden uns damit an, angekommen zu sein. Wir sind dann keine rastlosen Sucher und Abenteurer mehr, sondern entdecken, dass in jedem Moment und sei er noch so unspektakulär und schlicht eine Erfüllung liegt.

Es geht nicht mehr ums Suchen, sondern immer wieder darum, in diesem einen Augenblick anzukommen. Ankommen hat dabei nichts Statisches, sondern ist eine ewige Bewegung, uns für den Augenblick zu öffnen, uns auf das, was ist, einzulassen. Diese Haltung ist sehr einfach und unbedingt.

Und noch etwas ändert sich, wenn unsere Grundhaltung nicht mehr vom Suchen bestimmt wird. Öffnen wir uns für die Gegenwart, für das, was schon auf uns wartet, werden wir überrascht feststellen: je weniger wir suchen, um so mehr finden wir!

Wenn wir unsere festen Vorstellungen und unsere Ziele immer mehr loslassen und damit auch unsere Ansprüche an das Leben aufgeben, dann entdecken wir vielleicht immer öfter, wie uns das Leben auf vielfältigste Weise Geschenke macht. Jeder Atemzug, jeder Herzschlag, aber auch jeder Kontakt und jede Erfahrung wird uns geschenkt. Jetzt spüren wir, dass uns das Leben zufließt und uns auf eine umfassende, grundlegende Weise unterstützt.

Es gibt Zeiten, in denen uns die Kostbarkeit des Lebens sehr bewusst wird. Durch eine schwere Krankheit oder nach einem Unfall rücken plötzlich all unsere Ziele und Ansprüche in den Hintergrund. In solchen Momenten wissen wir um das Geschenk des Lebens. Wir freuen uns an dem, was da ist, auch wenn es ganz einfache, schlichte Dinge sind. Wir sind dankbar dafür, was wir haben und schielen nicht mehr nach dem, was wir nicht haben. In solchen Momenten nehmen wir das Leben und die Dinge nicht mehr als selbstverständlich, sondern eben als Geschenk.

Doch leider halten diese besonderen Momente nicht an. Schon bald wird das Geschenk des Lebens wieder durch unsere Vorstellungen und Ansprüche, aber auch durch die Gewohnheit und das Gefühl von Selbstverständlichkeit überlagert.

Wie kostbar ist eine Beziehung zu einem geliebten Menschen am Anfang und was geschieht mit der Liebe und dem Gefühl der Kostbarkeit, wenn die Beziehung zur Gewohnheit geworden ist? Wie kostbar wird dieser Mensch uns plötzlich wieder, wenn wir von einer schweren Krankheit bedroht sind?

Gerade nach schweren Krisen, wie zum Beispiel einer schweren Krankheit, stellt sich manchmal das Gefühl ein, dass uns das Leben neu geschenkt wurde. Wie empfinden wir dann das Leben, den heutigen Tag oder die Möglichkeit, jetzt zu Atmen? In diesen Situationen werden wir daran erinnert, dass uns das Leben an jedem Tag unseres Lebens neu geschenkt wird.

Nichts ist selbstverständlich. Nicht, dass unser Herz gerade schlägt oder dass wir jetzt atmen. Nicht, dass wir lesen, zuhören und klar denken können und auch nicht, dass geliebte Menschen, Partner, Freunde und Kinder morgen noch leben. Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

Sich das bewusst zu machen, ist vielleicht der direkteste Weg ins Glück.